Leseprobe

Leseprobe aus dem Buch "Interview mit Emely"

Bintas

Bintas, der HofhundFrüher, so heißt es in vielen Märchen, gab es magische Orte, an denen keine Grenzen zwischen Menschen und Tieren existierten. Die Menschen lebten in Frieden mit den Tieren. Wilde und zahme Tiere vertrugen sich, denn ‚wild‘ und ‚zahm‘ hatten keine Bedeutung. Manche Menschen erlernten die Sprache der Tiere und manche Tiere konnten wie die Menschen sprechen.

Ich frage mich oft, warum die Menschen und die Tiere nicht weiterhin in diesem Paradies leben?

„Der große Geist beschloss die Welt der Tiere und der Menschen zu trennen“, besagt eine indianische Legende. „Er versammelte alle Lebewesen auf einer großen Ebene. Dann zeichnete er eine Linie in den Staub. Die Linie teilte sich und wurde zu einem großen Graben zwischen den Menschen und den Tieren. Im allerletzten Moment aber sprang der Hund über den Graben und stellte sich zum Menschen!“

Ich bin Bintas, der Hofhund hier auf dem Tierhof in Bokelberge. Manchmal denke ich, dieser Ort ist einer dieser magischen Orte, an denen Menschen und Tiere in Frieden miteinander leben.

Auf unserem Tierhof gibt es viele Tiere: Haustiere, Nutztiere und auch Wildtiere, die sonst in den Wäldern leben. Wir alle, die Tiere und die Menschen, leben hier in einer großen Gemeinschaft. Gemeinsam haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, eine Brücke des Verständnisses zwischen Menschen und Tieren zu bauen. Da sind das Wildschwein Emely, die Ziege Ida, die Rehe Pauline und Pelle, Cora, die Eselin, Findus, der Kater und Elli, die Ente. Wir alle sind nicht wie du. Doch da ist Corinna, sie ist wie du. Sie hilft uns euch Menschen besser zu verstehen und hilft dir, uns Tiere zu verstehen.

Weil ich, Bintas, die Tiere verstehe und trotzdem bei euch Menschen lebe, werde ich dir diesen ganz besonderen Ort zeigen. Komm einfach mit, hier gibt es viel zu sehen und zu entdecken.

Der Tierhof ist ein abgetrennter Teil eines ehemaligen Gutshofs mit vielen Gebäuden und Ländereien. Er besteht aus einem Wohnhaus, Stallgebäuden, einer großen und einer kleinen Wiese, einem Obstgarten, einem großen Hof und einem Schweinewald.

Ich wohne im Wohnhaus zusammen mit Corinna und ihren Kindern Luca und Lasse und einigen Katzen. Früher war das Wohnhaus ein Schafstall. Weil aber Menschen in diesem Schafstall leben wollten, wurde das Gebäude zu einem Wohnhaus umgebaut. Menschen brauchen ja eine Küche, ein Bad und solche Dinge. Mein Schlafplatz ist ein großes Kissen und befindet sich zwischen der Wohndiele und der Haustür. So kann ich Wache halten und trotzdem schlafen.

Das Wohnhaus steht mitten in einem ehemaligen Obstgarten. In diesem Obst- oder Apfelgarten leben Pelle und Pauline, zwei Rehe. Vom Garten aus kommt man zu einer großen Tordurchfahrt. Sie war früher die Zufahrt zum ehemaligen Gutshof. Meistens spielen die Hühner hier Fangen. In dieser Tordurchfahrt befindet sich der Eingang zur Tierheilpraxis von Corinna Michelsen. Meine Freundin Corinna ist Tier- und Kindercoach und Tierheilpraktikerin.

Was, du weißt nicht was eine Tierheilpraktikerin ist? Tierheilpraktiker helfen uns Tieren dabei gesund zu werden, zum Beispiel wenn wir verletzt sind, eine Entzündung haben oder uns Durchfall plagt oder so.

So, jetzt sind wir schon beim Pferdestall. Im letzten Jahr sind die Hühner und Enten mit in den Pferdestall eingezogen. Eigentlich haben die Hühner ihr eigenes Hühnerhaus, doch im letzten Sommer stattete der Fuchs dem Hühnerstall einen Besuch ab. Und du weißt schon, Füchse finden Hühner lecker.

„Hier ist es nicht mehr sicher! Hier ist es nicht mehr sicher“, gackerten die Hühner. Dann packten sie ihre Sachen und zogen um. Spaß beiseite! Hühner brauchen natürlich keine Koffer packen. Das machen nur Menschen. Die ganze Hühnerschar, alle Hühner und Hähne gemeinsam, beschlossen: „Wir ziehen um!“ Nun wohnen sie mit im Pferdestall, weil es dort sicherer für sie ist.

Im Pferdestall gibt es drei Boxen: Die eine Box gehört Fandango, dem Pferd, in der zweiten schläft Luna, die Kuh, und die dritte dient als Futterkammer. Getreide, Mais, Heu, Möhren und andere Leckereien werden hier aufbewahrt. Es gibt noch eine vierte Box. Die wird aber nur als „Notfallbox“ genutzt. Oder als Gästezimmer, wenn überraschend „Gäste“ kommen. Ich darf natürlich in der Küche fressen.

Jeden Morgen mache ich eine Kontrollrunde. Ich inspiziere das ganze Areal unseres Hofes. Das tue ich gern, denn ich bin ein Hofhund. Deshalb muss ich immer genau wissen, was auf dem Hof los ist. Meist beginne ich meine Runde beim Pferdestall. Danach flitze ich zur Hausweide. Ida, unsere Ziege, ist ziemlich frech. Manchmal will sie unbedingt auf dem Hof unseres Nachbarn spazieren gehen. Das darf sie natürlich nicht! Deshalb bringe ich sie, bevor jemand etwas bemerkt, zurück auf die Hausweide.    

Nachdem ich nachgesehen habe, ob es den beiden Eseln Cora und Mup gut geht, besuche ich die Rehe Pauline und Pelle in dem ehemaligen Obstgarten gleich neben dem Wohnhaus. Auf der Wiese grasen die Schafe, das Pony Pixie und meist auch Fandango. Auf dem Rückweg halte ich ein Schwätzchen mit Emely und Willy, den beiden Wildschweinen, und mit Paula und Anton, den Minischweinen. Die vier wohnen im Schweinewald.  Dann laufe ich zurück zu Corinna, die meistens noch mit dem Füttern der Tiere beschäftigt ist.

So, jetzt kennst du schon einige Tiere und unseren Hof. Natürlich wohnen hier auch Katzen, Schwalben, Spatzen, Wachteln, Meerschweinchen, Bienen und viele andere Tiere.

Hier gibt es eine kleine Unterbrechung. Es geht weiter mit der Geschichte, die Emely Bintas erzählt.


Emelys Kindheit

Die Tiere in BokelbergeHallo, ich bin Emely. Du willst wissen, warum ich als Wildschwein auf einem Tierhof wohne?

Das kam so: Als ich noch ganz, ganz klein war, wurden meine Mama und meine Geschwister von Männern, die durch den Wald liefen, getötet. Es war richtig gruselig. Die vielen Zweibeiner und die Hunde. Es war so laut und ich hatte große Angst. Deshalb lief ich schnell weg und versteckte ich mich unter einem Brombeerbusch. Dort saß ich und zitterte. Damit die Hunde mich nicht finden, tat ich so, als wäre ich tot.

Abends, als es allmählich still wurde, kam ein Mann. Obwohl es schon dunkel war, zog er mich aus meinem Versteck. Ich zitterte und quiekte, doch er steckte mich in einen Sack. In seinem Rucksack trug er mich nach Bokelberge zu Corinna.

Corinna freute sich sehr über mein Kommen. Trotzdem wollte ich am ersten Tag nicht hier leben, so wütend und traurig war ich. Schließlich hatte auch Corinna zwei Beine, genau wie die Menschen, die mit ihren langen Stöcken durch den Wald gelaufen sind. Am zweiten Tag war ich dann richtig sauer. Am liebsten hätte ich Corinna gebissen, schließlich waren die Menschen schuld daran, dass ich jetzt keine Mama und keine Geschwister mehr hatte und ganz alleine war. Ein kleiner Junge nahm mich auf den Arm. Er streichelte mich liebevoll und sagte: „Es wird dir hier gutgehen!“  Sein Name war Lasse und ich vertraute ihm. Am dritten Tag probierte ich die leckere Milch und stellte fest, dass es auf Corinnas Schoß schön warm und kuschelig war, fast so wie bei meiner Mama.

Und plötzlich war es gar nicht mehr so schlimm, bei den Menschen zu wohnen. Ich schlief in einem Hundekorb. Corinna trug mich den ganzen Tag in einem Tuch herum. So konnte ich viel sehen und war immer dabei. Ich durfte sogar zusehen, wie sie Spaghetti kocht. Als ich größer wurde, übte ich auf dem Küchenfußboden Rutschen.

„Wildschweine sind keine Haustiere“, sagte Corinna eines Tages. Damit meinte sie, dass es Zeit für mich sei umzuziehen. Ich sollte draußen bei den anderen Schweinen wohnen. Das fand ich ziemlich blöd. Mir gefiel es, bei Lasse und Luca zu wohnen. Alle liebten mich. Hier wurde ich verwöhnt und geknuddelt. Ich wollte nicht umziehen, sondern bei den Zweibeinern wohnen bleiben.

Allerdings – da war die Sache mit dem Buddeln. Buddeln konnte man draußen wirklich viel besser. Und auch laufen, so richtig schnell laufen. In der Küche war der Fußboden viel zu glatt, um richtig schnell flitzen zu können. Da ich nur in den Garten umziehen sollte, konnte ich Corinna meistens sehen und immer besuchen und es gab dort andere Tiere, mit denen ich spielen konnte. Deshalb stimmte ich schließlich zu.  

So kam ich zu Anton und Paula auf das Freigelände. Draußen zu wohnen war richtig super. Jeden Tag konnte ich laufen und buddeln, mit den anderen Tieren spielen und an den Blumen schnuppern. Ich konnte die Sterne sehen, mich in den Regen stellen und mich richtig dreckig machen. Es war schön hier. Gemeinsam mit Anton und Paula schlief ich in einer Hütte. Und endlich konnte ich jeden Tag trainieren. Weißt du, warum das für mich so wichtig war? Na, weil ich ein Rennschwein werden wollte!

Du lachst? Anton hat es mir am Anfang auch nicht geglaubt und nur mit seinen Ohren gewackelt. Obwohl ich ihm jeden Tag von meinen Plänen erzählt habe, tat er immer ganz gelangweilt. Manchmal hörte er gar nicht richtig zu.

Paula und Anton sind zwei Minischweine. Eigentlich sind sie nicht viel älter als ich. Sie wurden im März geboren, nur ein halbes Jahr vor mir. Die beiden sind Geschwister! Dabei sehen sie ganz unterschiedlich aus: Paula ist ganz schwarz mit einem weißen Füßchen und Anton ist rosa mit schwarzen Punkten.

Immer meckerten die beiden an mir rum, vor allem wenn ich trainieren wollte. Paula tat immer so, als ob sie meine Mutter wäre. Sie war so was von vernünftig!

Und dann waren da noch die Kinder. Besonders die kleinen Mädchen rochen so gut und immer wollten sie mit mir rumknutschen. Wenn ich sie beschnüffelte, waren sie ganz glücklich. Ach, waren das schöne Zeiten!

Ich war so froh, eine Familie zu haben. Ganz alleine zu sein ist schrecklich. Wildschweine brauchen ihre Familie, ihre Rotte, auch wenn die Rotte aus Zweibeinern oder aus Minischweinen besteht. Deshalb genoss ich es in vollen Zügen bei Paula und Anton zu leben. Nur manchmal nervte Paulalein. Doch dann lief ich ganz schnell weg und wühlte in der Erde – herrlich.

 

Soll ich dir auch die Geschichte erzählen, warum ich beschlossen habe, in Bokelberge wohnen zu bleiben und nicht in den Wald umzuziehen?

 

Emelys Flucht in den Wald

Emely und WillyDiese Geschichte macht mich glücklich und traurig zugleich. Kennst du dieses Gefühl? Es ist ganz seltsam.

Am 22. November 2009 wollte ich meinen dritten Geburtstag mal so richtig mit einer ordentlichen Wildschweinwühlerei feiern. Ich war gerade dabei, ein großes Loch zu buddeln, da kam plötzlich so ein Dingsbums mit viel Krach und Getöse vom Himmel gestürzt. Corinna erzählte mir später, es wäre ein Rettungshubschrauber gewesen.

Doch damals dachte ich nur: „Ein Ungeheuer mit riesigen Löffeln!“ Das Ungeheuer flatterte am Himmel hin und her, kam immer tiefer und tiefer und flog direkt auf mich zu. Mit seinen langen Löffeln wirbelte es alles auf: Blätter, Äste und Sand flogen herum. Dabei machte dieses seltsame Ding solchen Krach, dass mir die Ohren dröhnten. Mir blieb fast das Herz stehen, solche Angst hatte ich.

Und was macht ein Wildschwein, wenn es in Panik gerät? Es erinnert sich an seine Urinstinkte und rennt und rennt. Nichts wie weg!

So schnell ich konnte, rannte ich in Richtung Wald. Da – ein Elektrozaun! Kein Problem – Anlauf nehmen und rüber. Wie ich das geschafft habe, weiß ich heute nicht mehr. Ich hatte nur eins im Sinn: so schnell wie möglich in den Wald und mich verstecken.

Uff, geschafft, endlich war Ruhe. Im Wald roch es würzig. Der Waldboden war locker. Man konnte herrlich gut herumwühlen und die Wurzeln und Kräuter schmeckten lecker. Es gab so viel auszukundschaften. „Hier kann ich bleiben“, dachte ich. So frei im Wald mit der Natur zu leben, war richtig super.

Kennst du dieses komische Gefühl, dass ihr Menschen „Heimweh“ nennt? Immer öfter musste ich an Anton und Paula denken. Ich vermisste meine Rotte so schrecklich. Und manchmal hörte ich Corinna rufen: „Emely!“.

„Ob dieses riesige Ding mit den langen Löffeln noch da ist?“, fragte ich mich.

„Ich will Corinna besuchen!“, beschloss ich nach einigen Tagen. Vorsichtig stellte ich mich an den Waldrand und lauschte. Nichts war zu hören. Langsam, auf Zehenspitzen, schlich ich zum Wohnhaus. Plötzlich stand eine Gestalt in einem Flattergewand vor mir. Ich wollte mich gerade umdrehen und weglaufen, weil es ganz schön unheimlich war, da merkte ich, dass es Corinna in ihrem Schlafanzug war. Stürmisch umarmte sie mich. Sie freute sich sehr, mich zu sehen, und ich ließ mich kraulen und knuddeln – wir waren beide glücklich. Dann wollte Corinna schlafen gehen. Weil ich nicht wusste, ob dieses Dingsdabums noch irgendwo auf der Lauer lag, lief ich in den Wald zurück.

Hast du schon mal diese komischen Menschen mit Hut und Stock durch den Wald schleichen sehen? Bevor ich weitere Pläne machen konnte, beobachtete ich, wie einer dieser Menschen den Stock hob. Es knallte. Schnell versteckte ich mich hinter einem Baum. Ja, auch ein großes Wildschwein kann sich ganz klein machen. Dann kam dieser Mensch an mir vorbei und zog ein Wildschwein hinter sich her. Etwas später fand ich eine Blutspur. Uh, war das gruselig! Heute weiß ich, ihr Menschen nennt es „Treibjagd“ und die Stöcker sind Gewehre.

Kaum hatte ich diesen Schock überwunden und wieder ein bisschen gewühlt und gegraben, kamen drei Wildschweinjungs an mir vorbeigeflitzt. Wow, rochen die gut. Als sie mich entdeckten, kamen sie zurück und schnupperten an mir herum.

„Hey Kleine, willst du mit uns spielen?“, quiekten sie. Klar wollte ich spielen. Und was soll ich dir sagen? Noch nie hatte ich mich so gut gefühlt. Diese drei waren so lustig und sie dufteten so gut. Es machte viel Spaß mit ihnen durch die Gegend zu ziehen.

Irgendwann wurde es den Jungs zu langweilig und sie wollten weg. Sie meinten zwar, ich solle mitkommen, doch irgendwie war mir das zu dumm. Ich hatte so lange nicht mehr in Bokelberge nach dem Rechten gesehen. Wie es Corinna und den Kindern wohl ging? Also nichts wie hin.

Wieder traf ich Corinna. Mann, war die glücklich, mich zu sehen. Endlich konnte ich wieder mit ihr kuscheln. Dann lief sie schnell ins Haus und kam mit so einer komischen Dose zurück. Ich sage euch, sprüht Corinna mich doch mit oranger Farbe an. Ein orangefarbenes Wildschwein? Igittigitt!

„Ab in den Wald“, dachte ich nur, „da hast du deine Ruhe.”

Später erzählte Corinna mir, die orangene Farbe sollte die Jäger warnen, damit sie mich während der Treibjagd nicht erschießen. Mich, Emely, erschießen?

Ich liebte das Leben im Wald. Da gab es niemanden, der versuchte, mich zu bevormunden, wie Paula, oder die Eicheln streitig zu machen, wie Anton. Oh, es war so schön im Wald, aber ich vermisste dort Corinna, die Kinder und die anderen Tiere so schrecklich.

„Emely“, rief Corinna hinter mir her, als ich wieder einmal in Bokelberge nach dem Rechten gesehen hatte. Ich war schon auf dem Rückweg in den Wald, da schallte es noch einmal: „Emely, Emely!“. Mitten auf dem Feld blieb ich stehen und überlegte und überlegte … Im Wald hatte mich niemand mit meinem Namen angeredet. Die Stimme klang so vertraut. Oh Mann, wie sollte ich mich entscheiden? „Emely“, erklang es wieder.

„Was soll´s, mit Corinna zu kuscheln ist doch das Schönste auf der Welt! Und in den Wald kann ich ja immer noch laufen …!“, dachte ich. Langsam trottete ich zurück zur Schweineweide. Später sind wir dann alle umgezogen in den Schweinewald. Und hier war es ja auch ein bisschen wie im Wald.

So, jetzt erzähle ich dir noch, wie ich zwei echte Polizisten getroffen und ihnen Angst gemacht habe.

Interview mit Emely / Tiergeschichten aus Bokelberge